Vergangenheitsselbstbildcollagendingens

Beschreibung

Collage von mir in verschiedenerlei Jugendepochen du ;) lange Zeit her und lange Zeit dazwischen - das verlangt nach einer längeren Geschichte. ... leider ...

Sie hieß Helga

Davon erzählt habe ich nie. Manches verläuft sich mit der Zeit und alles was früher war, stellt sich mir heute so dar, als gehöre es nicht wirklich zu mir. Zu mir gehört nämlich ohnehin sehr wenig. Ich streichle Käthes Schatten an der Wand, wische mir jenen meiner Haare aus dem Gesicht und spüre wenig Gegenwart. Dann werde ich sehr schnell erzählselig. Nennt man das so? Ich weiß nicht, wie man das nennt. Bier, Tee oder ein paar verlorene Salzstangen gegen den eigenen Schweinehunddurchfall passen auch dazu. Käthe hat wieder angefangen zu rauchen und dampft wirblige Schatten an die Wand. Es ist dunkel, es ist Nacht und verregneter Spätsommer. Und ich erzähle:
Ich bin zwanzig damals. Da ich noch nie auf dem Land war, jedenfalls nicht im engeren Sinne, schenken mir meine Eltern einen Urlaub auf dem Bauernhof. Eine fürwahr spätpädagogische Maßnahme, ein epochaler Gedanke meines Vaters, der Arbeitszeitlebens bei der pharmazeutischen Industrie tätig ist. Er malt Hämorrhoiden überlebensgroß für Plakate und bearbeitete sie bei uns im Partykeller mit der Airbrushpistole wie ein wilder Schmierfink. Diese, von ihm durchaus im Guten kreierte Umgebung, erscheint ihm irgendwann zweifelhaft. Er verfällt ins Grübeln. Zum Glück hat Onkel Armin einen Bauernhof und immer schon gehabt und dies verkürzt das Grübeln meines Vaters erheblich. Ich schnüre mein Bündel, verabschiede mich von meinen Eltern, als sei es für immer und mache mich auf zu Onkel Armin und Tante Renate. Onkel Armin und Tante Renate bestehen aus härteren Knochen, massiveren Bäuchen und mittelgebirgigeren Gesichten, wie andere Menschen, was darin liegt, dass sie richtig vom Lande sind. Sie sprechen nur, wenn der Mond am Himmel fehlt oder die CDU Gefahr läuft die absolute Mehrheit im Kreistag einzubüßen.
Tante Renate ist das, was als gutherzig in dieser Region durchgeht. Sie hat morgens Rückenschmerzen, wirft mittags einen apfelrotbackend gesunden Knaben und geht am frühen Abend dem Bauern, unseren Onkel Armin, mit der Furche zur Hand. Weil Renate so ist, muss ich nicht arbeiten, ich bin ein Feriengast und kriege jeden morgen frisch gelegte, noch körperwarme Eier. Onkel und Tante haben ein paar Kinder, vor allem Helga, mit Schweinebummellocken. Ich soll mit Helga spielen, wenn ich lange Weile habe. Helga ist neunzehn. Sie sammelt Splattervideos. Sie zeigt mir einen, in dem Nymphen und Elfen geschlachtet werden. Den kenn ich noch nicht. Helga hat ganz feuchte Handinnenflächen und riecht nicht gut. Aber ich finde Helga ganz nett. Sie redet wenig, etwas mehr als Onkel und Tante. Kusine Helga zeigt mir den Schweinestall. Dort ist es eigentlich ganz still, wenn die Schweine nicht wären. Manchmal sagt sie mir auch etwas von ganz früher, als sie Prinzessin sein wollte.
Manchmal kommen Buben mit Sonntagsanzügen auf den Hof. Sie haben Blumen in der Hand und sagen, dass sie vom Vater geschickt wurden. Onkel Armin jagt sie fort.
Helga und ich gehen aufs Zimmer und sind ganz still. Die Schweine sind nicht zu hören. Wir schlafen dann miteinander. Helga möchte immer, dass ich ihre venushügelartige Erhöhung im Nacken streichle und „verehrte Dame“ und „gnädige Frau“ zu ihr sage. Ich soll auch so Sachen sagen wie: „bitte nach ihnen“ und „darf ich es wagen!“ Da ich das aber anstrengend und im Grunde auch sehr doof finde, ist das ganze immer nur eine kurze Sache. Helga ist dann sauer und schlägt auf mich ein. Erst weint sie, dann lacht sie. Wenn sie lacht, lache ich auch und sie gibt mir ihre verschwitzte, dicke, knubblige, grobporige Hand.
Dann ist der Urlaub vorbei. Ich fahre zurück zu meinen Eltern und ersticke fast in der Stadtluft.
Käthe grinst sich eins - laut. Sie findet mich komisch, wenn ich ihr Sachen aus der Vergangenheit beichte, von einer Vergangenheit, die kaum etwas mit mir zu tun hat. Käthes Schatten löst sich von der Wand und ihr Gesicht erscheint vor dem meinen. Wir reichen uns die Hände. Käthes Hände schwitzen nicht.

14. August 2005