Ernst Ludwig Kirchner: Fränzi vor geschnitztem Stuhl (1910)

[Mehr Skurriles und Besonderes aus dem Museo Nacional Thyssen-Bornemisza, Madrid]

Franziska "Fränzi" / "Marzella" Fehrmann ist das vielleicht berühmteste Kindmodell der Kunstgeschichte.
Ihr nur 50 Jahre währendes Leben wurde intensiv erforscht, ohne die letzten Geheimnisse endgültig zu lüften.

Sie begann im Alter von knapp neun Jahren für drei Maler der Dresdner Künstlergruppe "Brücke" Modell zu stehen.
Von EL Kirchner, Erich Heckel und Max Pechstein existieren ca. 50 Werke mit ihr im Alter von neun bis zwölf.
Ein Teil der Bilder zeigt sie nackt und in unbekümmerten, aber nie freizügigen Posen.
Das Bild in Madrid ist eines der gefeiertsten Porträts des damals zehnjährigen Mädchens.

Nach der sexuellen Revolution der 1970/80er Jahre schlägt das Pendel seit den 90er Jahren in die andere Richtung aus.
Es begann die berechtigte und überfällige Aufarbeitung von Missbrauchsfällen in der Kirche und in Internaten.
Und es begann in den sensationsgeilen Medien eine Welle der hysterischen Jagd auf vermeintliche Kinderschänder.

So war es keine Überraschung, dass auch Kirchner und Heckel in den Verdacht des Missbrauchs gerieten.
Fränzi wurde als Lolita herabgewürdigt, Tagebucheinträge der Künstler wurden aus dem Zusammenhang gerissen.
Hauptsache, die reißerische Story passte für die "Berliner Morgenpost", den "Spiegel" und "art – Das Kunstmagazin".
Lediglich "Neue Zürcher Zeitung" und "Frankfurter Allgemeine" bemühten sich um Relativierung und Sachlichkeit.
Die NZZ fand eine „Art von ästhetisch-erotischer Ausbeutung Minderjähriger“, die problematisiert werden müsse.

EL Kirchner schrieb im April 1910 (da war Fränzi/Marzella neun einhalb) an Heckel:
»Marzella ist ganz heimisch geworden und entwickelt feine Züge.
Es liegt ein großer Reiz in einem solchen reinen Weibe.
Andeutungen, die einen wahnsinnig machen können. Toller als in den älteren Mädchen.
Freier, ohne daß doch das fertige Weibe verliert.
Vielleicht ist manches bei ihr fertiger als bei den reiferen und verkümmert wieder.
Der Reichtum ist sicher größer jetzt.«

Bewiesen ist nichts. Und wie immer liegen Schönheit wie Missbrauchsfantasien im Auge des Betrachters.
Wer Kinderfotos ohne Hintergedanken betrachtet, wird die Zeilen Kirchners als Wertschätzung des Modells begreifen.
Wer unbedingt Parallelen zu Nabokovs literarischem Bestseller sehen will, wird sie auch finden.
https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/d/d3/Ernst_Ludwig_Kirchner_-_Portr%C3%A4t_Fr%C3%A4nzi_Fehrmann_1910.jpg

[Leider befinden sich auf dem Bild Reflexe vom Fenster, die ich nicht beseitigen konnte.]