50 Jahre und ein Ende 2

Beschreibung

1988 Lehrgang Kiel-Mettenhof

50 Jahre und ein Ende 2


In den nächsten Monaten versuche ich Sonja zu vergessen, obwohl sie mir die Tauglichkeitsprüfung versüßt hat. Das gelingt natürlich nicht. Nun, es gibt ja viele Anlässe vieles zutun. Einen ernsthaften Anlass freiwillig nach Itzehoe zu fahren, wenn man in der Max Brauer Allee zu Hamburg eine Ausbildung macht, gibt es nicht. Meine Mitschülerinnen, fast alles Frauen, kommen teilweise auch aus dieser Ecke. Und Orte wie Tornesch, Uetersen oder Elmshorn werden zu meinem Alltag.

Norddeutsche Betten sind ohne Bauernmalerei, aber doch hart. Zeit für lange Aufenthalte gibt es nicht, so wird Sonja wieder ein Thema. Aber eines mit Hürden. Immer wenn ich sie besuchen will, hat sie ihre Tage und sie sagt mir, ich soll doch meine Phantasie spielen lassen. Ich flüstere ihr oft nette Sachen ins Ohr, dessen reale Umsetzung sie aber strikt ablehnt. Das andere Hindernis ist ihr Bundie. Den hat sie nicht abgeschossen, außerdem hat er seinen Dienst längst vollendet und denkt über ein Sozialpädagogikstudium und längere Haare hinten nach.

Club 68 ist bei mir um die Ecke. Ich bin jetzt Erzieher und Heimschläfer. Mein Vater unterstützt mich moralisch. Er war Kriegsgefangener auf einem französischen Bauernhof und wegen Fahrraddiebstahl als Krimineller in Marseille. Mein Vater ist gegen die Bundeswehr, aber auch gegen männliche Kinderbetreuung. Club 68 stellt einen behinderten Jungen als Bearbeitungsbeispiel in Aussicht.

„Sie sind Erzieher – wundervoll!“ Von wegen. Alle Neulinge werden erst einmal zu Herrn Franke geschickt, einen notorisch nörgelnden Rollstuhlfahrer, bei dem es kein Zivi länger als zwei Wochen aushält. Ich lass mich krankschreiben, über Ostern. Mein Bettelanruf bei der Dienststelle, ich könne das nicht mit dem Franke, verhallt in Allgemeinfloskeln.

„Leute, ihr macht Zivildienst. Ihr müsst das machen!“ Dann Kiel-Mettenhof, Grundlehrgang. Achtzig junge Männer zusammen auf engstem Raum in einem Viertel mit dem Charme eines „Minimümmelmannsberg“. Die Schwulen und Nichtschwulen sind schnell ausgemacht. Ein paar harte Knochen spüre ich in Gliedern und Löchern, einige schießen mit dem Luftgewehr durch die Gegend und werden strafversetzt. Ein bissl Bundeswehr für wenige Wochen. Ich bitte alle Frauen, dass sie mir doch schreiben mögen. Sonjas Post kommt prompt. Sie ist jetzt mit einem Totalverweigerer zusammen.

Nach Mettenhof wird es besser. Ich bekomme Didi. Der geht auf die Sonderschule im Nymphenweg zu Harburg. Geistig behindert und zwölf und geboren am 19. Mai, was er pro Tag mindestens hundert Mal wiederholt. Ein freundliches Kind.
Die Klassenlehrerin ist 1,87m, sehr nett, und zu alt für mich. Sie ist extrem kurzsichtig und rennt ständig gegen irgendwelche Sperrbalken auf dem Schulgelände. Sie beult dadurch aus, scheint aber kein Blut im Leib zu haben.

In Kiel haben wir geübt, wie es ist, wenn man nichts sehen kann und blind durch die Stadt muss. Ein Kollege mit Verdunklungsbrille und der andere als Betreuer. Die gleiche Nummer mit Rollstuhl. Die Busfahrer extrem genervt an den Haltestellen, weil die wissen, dass das jede Gruppe so durchzieht.

Ich liege oft allein in der Klasse, weil Didi nicht mit darf. Er ist Epileptiker. Didi liegt da und schläft. Nach so einem Anfall ist der Kleine erst einmal drei Stunden komplett im Eimer. Ich leg mich zu ihm auf die Spielpolster. Mal kommt eine nette Praktikantin rein und bringt mir einen Kaffee. Knutschen ist aber nicht, wie früher im Klassenzimmer, oder wie mit Sonja am Bahnhof. Ab und zu mach ich ein Foto mit meiner ersten Nikon. Die Direktorin fragt mich, ob ich Telefondienst machen möchte. Laut Dienststelle dürfen wir das ablehnen. Die Direktorin ist aber nett.

...

17. Dezember 2010

fortsetzung folgt

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