Moralischer Verfall

Beschreibung

Moralischer Verfall

Nicht grüßende Kinder mit Dreck in den Ohren. Hässliche, allein liegende Väter, dem Alkohol und der Fluchtsucht verfallen. Verstoßene, die sich aufdrängen und einem ihre Jugend erzählen, und von ihrer Zeit als Rockstars. Polizistinnen, die in der Öffentlichkeit rauchen, mit offenem Haar und so aussehen, als würden sie in ihrer Freizeit als Uniformmodels arbeiten; sie wissen schon: für diese Erwachsenenfilme.

Die junge Witwe nebenan. Sie hat das Gesicht des Dämons. Jeden Abend ein anderer Besuch. Junge Männer, die sie mit Riesling übergießen, während sie sich vor Vergnügen auf die nackten Schenkel klatscht. Und dann diese freche Kurzhaarfrisur und diese Lippen, die aussehen wie Cordon – Bleu - Lappen. Und dazwischen strahlend weiße Zähne. Sie lässt sich gerne hart ran nehmen. Z.B. mit dem Pümpel als Hilfsmittel. Ich höre jeden Abend, wenn es ploppt und dann ihren Befreiungsschrei, unverschämt musikalisch und übertrieben jugendlich. Wenn ich sie auf der Straße treffe, lächelt sie mich offen an. Dabei ist sie verräterisch züchtig angezogen. Ihr verstorbener Mann war ihre große Liebe und angeblich hatte er es so gewollt, dass sie ein vergnügliches Leben führt. Ein perverser Intellektueller. Sie sagt, sie trägt ihn im Herzen und das mache sie auf ewig froh. Die Schlange verbirgt ihr Leiden.

Sie ist so schön, dass mir der Atem stockt, wenn ich vor ihr stehe. Die wirklich guten Menschen sollten sich zusammen tun und sie schwer bestrafen. Beine und Arme brechen reicht nicht. Gekonnter Tritt ins Kreuz und dann den richtigen Wirbel treffen. Diagnose Rollstuhl. Vielleicht kommt sie dann zum Nachdenken.

Wenn ich mal verreist bin, dann gebe ich ihr meinen Wohnungsschlüssel. Sie gießt meine Pflanzen und nimmt meine Post mit rein und putzt mir die Küche blitzeblank. Es riecht immer himmlisch, wenn ich nachhause komme. Frische Gartenblumen stehen auf dem Küchentisch und ein Zettel: „Herzlich Willkommen daheim – Gisela!“

Sie schleimt, wo sie kann. Nie ein böses Wort über die Nachbarn. Widerlich. Ich lade sie dann zum Essen ein, weil ich eine Kinderstube habe. Das ist eigentlich immer ganz nett. Sie ist artig und unaufdringlich. Und wenn ich ihr angeblich versehentlich Rotwein über das Kleid schütte, dann ist das angeblich gar nicht schlimm. Sie macht mich wahnsinnig. Sie ist böse und will meinen Hass.

Ich sage meinen Freunden, dass ich das nicht mehr aushalte. Ein Einbruch in Abwesenheit. Als sie ihre verwüstete Wohnung sieht, bricht sie in Tränen aus. Ich bin zum ersten mal froh, seit Wochen.

Jetzt hat sie Tabletten genommen. Niemand weint ihr nach. Angehörige gibt es nicht. Deshalb pflege ich ihr Grab, denn ich weiß wenigstens, was sich gehört.

9. November 2010

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