Tragende Rolle

Die Kanzel des Münsters stammt aus der barocken Ausstattungsperiode um 1680. Von einem Schreiner aus St. Gallen gefertigt, besteht die Architektur aus Nussbaum- und die dekorativen skulpturalen Elemente aus weichem Lindenholz.
Eine Schnitzfigur des Urvaters Abraham mit dem Widder trägt den Predigtstuhl auf dem Haupt und scheint ihn mit den Händen zu balancieren. Abraham wird hier symbolisch als Vertreter des Alten Bundes eingesetzt, auf dem die Lehre der Evangelisten und des Neuen Bundes ruht. Im 18. Jahrhundert hielten die katholischen Bürger die Skulptur aus Unwissen jedoch für eine Darstellung des – ebenfalls meist bärtig dargestellten – Jan Hus, der auf dem Konstanzer Konzil als Ketzer verbrannt worden war. Die „elende hölzerne Mannsfigur, die so monstreus und unförmlich gemacht ist, als möglich“ wurde daher übel traktiert.

Der Irrglaube hielt sich bis ins 19. Jahrhundert, obwohl die Kanzel im Zuge der katholischen Gegenreformation entstanden war, wo man gewiss keinen Feind der Kirche zum Träger eines Predigtorts gewählt hätte. In den 1830er Jahren wurde die Skulptur, nun wieder als Abraham erkannt, auf einer Ausstellung über das Konzil gezeigt und anschließend eingemottet.
Erst 1986 kehrte sie wieder an ihren angestammten Ort zurück, wo die Schäden ihrer einstigen Misshandlung nun sichtbar sind.
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