Solche Tage 36

Beschreibung

Gestern wieder die Falten der Stadt von unten aufgerollt. Mühsam, wie gegen Berge voll Schnee durch sommerwarme Asphaltwellen. An diesem 12. Juni 2018 erscheint jeder Weg weit. Dafür gibt es ja den Ausspruch „Ironie des Schicksals“. Keine Ahnung wie ich das anders nennen soll. Nun schaut schon lange am Rande einer vielbefahrenden Hauptstraße mein Vater zum Fenster raus. Die letzten Jahre/Tage/Stunden des Lebens wohl. Kein Anzeichen für wundersames jung bleiben – mittlerweile dünn und bleich geworden. Ein Gesicht, welches aus dem alt bekannten Gesicht geflohen ist. Ich besuche ihn zwar gerne, aber wir halten es immer kürzer miteinander aus. Die Themen sind in meinem Elternhaus geblieben, welches mein Vater letztes Jahr nach dem Schlaganfall für immer verlassen mußte. Das Haus verkommt zu einer gespenstischen Ruine. Nachbar und Schwester schauen nach der Post. Ein Gärtner korrigiert gesellschaftliches Ungemach durch Überwuchs auch auf eine Hauptstraße. Dort an der Fußgängerampel fühlen sich Menschen gestört, wenn ihnen Zweige und Äste ins Gesicht schlagen.

Zu Mutters letzten Tagen entwickelte ich ein grade zu grazil zartes Gefühl, fragil und gläsern, ängstlich und beherzt. Ihr Sterben war ein bewußter Schmerz, dem Worte der Liebe folgten, die mich statt Tränenglocken begleiteten. Vaters altern in der sog. Seniorenresidenz begleiten wir beide (er und ich) eher mit dem kernigen gemeinsamen Witz. Er kehrt in die Realität zurück, die er jahrelang verlassen hatte. Damals noch mit seiner Frau an der Seite. Der Wunsch auf ein gemeinsames Ende in einem gemeinsamen Haus. Das 21. Jahrhundert, die lebensverlängernde Medizin bei gleichzeitig nähmaschinenartig schnurrend drohendem Verfall haben das nicht zugelassen. Das internationale Personal im Heim fasziniert ihn. Den neuen deutschen Populismus kann er nicht mehr verstehen, seit dem er hier durch Pflegekräfte Mentalitätsfusion erlebt.

Wie alt soll er noch werden? Niemand wünscht seinen Tod, aber keiner ein ewiges Verlängern dieses Zustands. Der Zwiespalt eines bezahlbaren Heimplatzes für eine Familie wie die Unsere. Welcher weich gespülte Feierabendästhet hat sich eigentlich den Begriff „Seniorenresidenz“ ausgedacht? Die Speisekarte liest sich wie die eines Asiaten, der bewußt deutsche Hausmannskost für die Einheimischen anbietet.

„Wenn ich Essen nur rieche – wird mir übel“, sagt Vater seit einiger Zeit. Er der das Essen immer für ein Heiligtum hielt. Er hat Essen in Frankreich studiert und zuletzt daheim immer von der Schweinshaxe geschwärmt. Alles vorbei!

Im Flur tragen tätowierte Pfleger St. Pauli T-Shirts in einer HSV Gegend. Ein paar Animierfrauen für „Singen – Lachen – Schönheit“ laufen hier auch umher. Haare wie graue Nordseewellen bis zu den nackten runzligen kleinen Füßen. Gitarre oder Schalmei um den Hals gehängt, ab und an ein Konfirmand im Schlepptau für den mein Vater als Zeitzeuge der deutschen Schande herhalten muß. Aber Vater erzählt gerne, er ist ein wandelndes Geschichtslexikon, auch wenn er mittlerweile die Epochen verwechselt.

Früher in diesem Haus, wenn ein Schüler unverschämt wurde, hat man ihn unterm Kreuz gestraft. Heute muß er ein ungeküßtes Mädchen küssen und ihr Zimmer aufräumen.

Vater schläft tagsüber mindestens so lange wie in der Nacht. Wenn ich ihn besuche, steht er auf. Wir reden über Fußball, bayerische Eigentumswohnungen die eher gestern als heute gekauft werden müssen und darüber, daß das Haus nun auch weg kann. Er weiß mittlerweile, daß da keiner von uns einziehen wird: keine Kinder, Enkel, Urenkel, Anhängsel, Fortsätze.

Ich gehe wieder weg. Er winkt mir gelassen zu. Ich gehe zum Italiener der frische Nudeln hat. Ein Ritual. Giovanni und ich geben uns beim Begrüßen die Hand. Eine dreiviertel Stunde Bahnfahrt nach Hause. Die Wellen des Asphalts lasse ich für diesen Tag hinter mir.


13. Juni 2018



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