Ein modernes Weihnachtsmärchen

Beschreibung

Handyrausch im Apothekenschaufenster Dezember 2006

Ein modernes Weihnachtsmärchen

Dieses Jahr ist alles anders, denn ich bin auf Montage. Oder wie nennt man das, wenn man bei fremden Frauen die Schrauben und Muttern nachzieht? Bei den Älteren die Muttern, bei den Jüngeren die Federn. Käthe und ich schreiben uns Briefe. Sie bestehen aus Schneetreiben und sozialen Umgangstipps. Aus Blechdoseninhalationen und aus Beschreibungen von Apothekenschaufensterdekorationen zur Vorweihnachtszeit. Manchmal so ein Satz von Käthe, wie: „Ach ja – wie ist das schön!“ Sie erinnert sich dann an Früher. Diese Rollkragenpullimenschen in Socken, welche die Schaufenster ausschmücken. So unantastbare Wesen sind das. Frisch von der Designerschule. Es riecht noch nach dem weißen Schal des Professors.

Ich taumle durch fremde Städte des Nachts. Unbekannter Wind zerzaust mir die Frisur. Irgendeine Bar hat noch auf und ich lerne Jemanden kennen. Wenn ich Glück hab, dann verbringe ich die Nacht in frisch gemachten Federbetten. Meistens sind die Frühstücksitten Auswärts auch ganz ungewohnt für mich. Es gibt gar nichts. Schon beim Übertreten der Schwelle, während ich noch murmle: „Es war nett du!“, höre ich wie das Bett abgezogen wird. Diese Kurzfristigkeiten haben etwas von einem Adventskalender. Hinter jedem Türchen ein Pläsierchen. Ich leihe mir von einer Soziologiestudentinnen - WG, die ich über eine Bekannte her kenne einen Schlitten, der von acht Zylindern gezogen wird. Dann bin ich etwas unabhängiger. Pensionen, Frauen und Kalendertürchen kann ich mir so ein wenig mobiler betrachten und ich muss nicht beim erstbesten Gedanken einsteigen in eine neue Runde mit Zimtsternen.

Wenn Käthe nicht einfach gesagt hätte: der Sack ist zu! Dann müsste ich das alles nicht machen. Dann würde ich sie nächtlich auf einem dieser Rastplätze an Autobahnen treffen, wo sich der freie Gedanke vorweihnachtlicher Menschlichkeit auslebt. Das wäre Abenteuer, Auffrischung von Schönheit und Liebe. Kajalstiftstriche aus nächster Nähe betrachten und weich werden. So ein Leben macht aber hart. Natürlich ist das nur eine Trennung auf Zeit und sie schickt mir auch frisch gewaschene Unterhosen in Vakuumbeuteln an die jeweiligen Adressen. Aber grade zur Weihnachtszeit, wo die Traurigkeit in jeder Stirnfalte der Nachbarn steckt, wo sogar Mahnbriefe entweder vermieden oder mit schönem Umschlagspapier verschickt werden, da würde ich gerne nackt mit Pizza in Käthes Bett liegen und „In a Landscape“ von John Cage hören. Wie hab ich doch die Partys mit neuen angeblichen Freunden gehasst. Und wie sehne ich mich doch jetzt nach all diesen Peinlichkeiten. Sogar ihren dummen verpickelten Sohn Peterle würde ich gerne wieder sehen um ihm einen Joint anzubieten.

„Die verdammte – dammte Weihnachtstraurigkeit!“ von Ludwig Hirsch höre ich rauf und runter im CD Spieler meines Leihwagens. Ich denke an unsere Mütter, wie sie im gleichen Feierabendheim sitzen, irgendwelche Stonesvorgängerbands hören und Gänsekeulenlabskaus mit dem Plastiklöffel schlabbern.

Ich fahre den Opel Kapitän (oder ist es ein neueres Modell – ich kannte mich nie mit Autos aus) in den Graben und schreibe an Käthe einen Brief.

„Liebling,

ich komme sofort wieder heim. Und wenn Du mir nicht die Tür aufmachst, dann zünde ich den Baum an.

Jonathan!“



11. Dezember 2006