Der Mann, der auf dem Herrenklo wohnt

Beschreibung

Foto mit Spotmatic und Rossmann 200 im Juli 2009 - Hauptbahnhof Hamburg - Fress und Sauf - Meile.



Der Mann, der auf dem Herrenklo wohnt

Wilfried ist ein freundlicher Mann. Er trägt gerne eine schwarz/weiß karierte Jacke, so wie einst Peter Frankenfeld. Einen imposanten Schnauzer, unmodern und kauzig und einen hübschen kleinen Kinnbart. Mittlerweile kennt ihn hier jeder. Man kann ihn alles fragen: nach dem kürzesten Weg zur Oper, nach dem neuesten Kleinkunstgeheimtipp und dem angesagtesten Flirtlokal. Er ist Reiseführer, Wetterfee und Märchenonkel. Wilfried freut sich, wenn man ihn zu einem Kaffee einlädt und er von sich erzählen kann. Über sich und von sich aus.

Er hat sich vor Jahren ja mal als Toilettenmann hier am Hauptbahnhof beworben. Man hat ihn nicht genommen: überqualifiziert und vorwitzig, hieß es. Aber er liebt das Herrenklo, als wäre es sein Eigenes. Er hat es als einen freundlichen Ort für sein Leben ins Herz geschlossen. Außer den rüden Machos und stumpfen Geschäftsleuten, kommen hier auch immer wieder kultivierte Menschen vorbei. Man sieht das, wie sie über der Pinkelrinne reden und dabei keinen Seitenblick zum Nachbarn riskieren, wie sie höflich andere zum Waschbecken vorlassen und wie sie in den Spiegel schauen. Schon beim Öffnen des Hosenstalls, erkennt Wilfried wie kultiviert ein Mensch ist. Ein wahrer Künstler des Herzens und somit sicher auch guter Liebhaber, öffnet den Hosenschlitz nur nebenbei und ohne Spektakel.

Natürlich wird viel über Frauen geredet. Auch bei diesem Thema ist Wilfried auf sehr seriöse Weise firm und selbst dem blödesten Pinkler kann er mit einem guten Rat etwas für dessen verkorkstes Leben mitgeben. Hin und wieder spricht ihn die Bahnpolizei an, dass er nachhause gehen soll. Aber so etwas wie einen festen Wohnsitz, kann der Wilfried leider nicht vorweisen. Dann bekommt er kurzfristig einen Platzverweis. Aber die Bahnpolizisten sind da gar nicht so. Meistens darf er dann auf einen Kaffee auf deren Station, wenn es ganz gut läuft sogar inklusive Salamirundstück oder Erbsensuppe ohne Einlage, welche übrig blieb. Oder ein Kollege bittet ihn einmal kurz in die Kabine. Einmal schnell Handbedienung reicht meistens und er darf wieder zu Rüdiger zurück. Rüdiger ist ein junger, schnittiger Kerl und der offizielle Toilettenmann. Stets mit Gel in der täglich wechselnden Frisur, gestylt und wohlriechend und bekannt für die schönste Rosette der Innenstadt. Er ist ein Garant für gepflegte Sanitärräume. Leider ist er dabei so blöd, wie eine heruntergeklappte Klobrille. Und Rüdiger kann in vielen Situationen froh sein, den gebildeten Wilfried neben sich zu haben. Das gibt ordentlich Trinkgeld für Rüdiger, weil ihm Wilfried oft einsagt. Aber das gepflegte Arschloch Rüdiger gibt seinem Kumpel selten etwas ab.

Aber Wilfried steht da locker drüber. Bei seinen Nebenverdiensten beschränkt er sich nicht auf Herren mit Anstand, sondern trifft sich auch mit Damen, die Format haben. Freilich muss er dafür auch mal das Herrenklo verlassen. Wilfried war mal mit Olga zusammen. 24 Jahre waren die beiden ein Paar. Dann hat Wilfried einmal versehentlich das Damenklo betreten und es war schlagartig Schluss. Seit dem ist er nicht mehr so richtig auf die Beine gekommen. Heute trinken Olga und Wilfried gerne wieder mal eine Diätcola zusammen. Olga lebt nebenan auf der Damentoilette. Sie weiß viel und ist sehr beliebt bei ihren Geschlechtsgenossinnen, bei den Schwestern, Geschäftsfrauen und Mädchen. Olga ist klug und geduldig. Olga und Wilfried haben zusammen studiert.





18. Juli 2009

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