"Eigentlich"

Beschreibung

oder "weshalb ich sooo gerne verreise"

Oh du schlaflose Nacht. Was könnte alles schief gehen?
Eigentlich ... nix.
Sicherheitshalber stehe ich zwei Stunden früher auf, als ich müsste.
Noch ein Blick auf meine Mails. Meine ganz persönliche Stalkerin schrieb mir
wieder unverständliche Kommis unter meine Fotos, die mich beleidigen sollen.
Moderation anschreiben, Stalkerin blocken, Fotos löschen. Mich ärgern? Nein.
Eigentlich ... ärgere ich mich höchst selten.
Also - was solls. Aber mein gemütliches Frühstück fällt aus. Schnell zum Zug.
Auf meiner Strecke zum Bahnhof gibt es -eigentlich- nie Stau. Nie! Nur heute.
Da stehe ich in der Autokolonne und schwitze. Naja, ich könnt es schaffen;
Glückskind, das ich bin. - Gerade eben so.
Von La Rochelle bis Paris knallt die Sonne drei Stunden lang voll auf den Zug.
Natürlich kann man kein Fenster öffnen. Gibt ja Air Conditioning. Nur - die
funktioniert nicht. Der dicke Herr schräg gegenüber erleidet einen Kollaps
und mein Zug hält auf offener Strecke, um dort auf einen Krankenwagen zu
warten.
Eigentlich ... hätte ich in Paris zwei Stunden Aufenthalt (gehabt). (Prima; denn
ich benötige nur ca. 50 min. zum Umsteigen, um mit der Metro von MontParnasse
zum Gare de l’Est zu kommen.)
Mein Zug jedoch fährt letztendlich mit mehr als einer Stunde Verspätung in
Paris ein. Also heißt es jetzt, alle Kräfte zu mobilisieren. Am Fahrkartenschalter
stehen Schlangen! Ich stehe und stehe und schwitze, hetze dann durch die Sperre,
- rumms, Klappe zu, Koffer steckt fest, ich auch. Aber die Pariser sind ja nett,
und so gelingt es mit vielen vereinten Kräften, Koffer plus Insu zu befreien.
Die Metro kommt in Paris alle zwei Min. Toll ist das. Und schnell ist sie, so schnell,
immervoll und hoppselig, dass ich mich bei jedem der 3 Millionen Holperern krampf-
haft festklammern muss, um nicht heftig mit dem Busen einer der vielen dunklen
Mammas zu schmusen. Aber auch dies ist nach 14 Stationen und 2 Stromausfällen
geschafft und ich hetze im Laufschritt treppauf, treppab (Rolltreppen? Gibts nicht.)
zu meinem bereits auf mich wartenden Zug. Tür zu und ab.
Eigentlich ... müsste ich im richtigen Abteil sein, Wagen 47, so ca. 1 bis 2 km vom
Bahnsteiganfang entfernt. Jjja! - Ich, wiederum schweißgebadet.
Und ... eigentlich ... hatte ich wirklich viel Glück.
Zwei Herren helfen mir, den schweren Koffer auf die Gepäckablage zu hiefen.
Nette Franzosen eben. Der Eine tritt mir dabei so feste auf den Fuß, dass ich ihn
noch nach Tagen in mein Nachgebet einschließen werde.
Endlich!, ich sitze. Während ich freudestrahlend -laut meine Erleichterungsseufzer
ausstoße, verfolge ich nebenbei das Gespräch zwischen einer Mutter mit zwei Kindern
und dem mir gegenüber sitzenden Herrn.
Sie: "Der Fensterplatz gehört meinem Sohn!" - Der Herr: "Non, Madame,
isch abe die Fensterplatz reserviert. Isch sitze immer an die Fenster."
Sie: "Nein, sie stehen sofort auf! Mein Sohn will dort sitzen."
Der Kleine: "Mami, ich kann auch innen sitzen. Es ist mir egal."
Sie: "Duu sitzt am Fenster. Und der Herr ! steht ! jetzt ! auf!"
Ja, der Herr steht tatsächlich auf und lässt den Kleinen ans Fenster.
Nun wendet sich die Frau mir zu: "Sie sitzen auf meinem Platz. Die Sitze 56 und 57
gehören mir und meiner Tochter." - Ich: "Verzeihung, aber Platz 57 ist meiner.
Sie: "Zeigen Sie mir ihre Fahrkarte! 57 habe ICH!"
"Sehen sie her," ich, leise und freundlich, "Wagen 47, Platz 57."
Und sie, trimphierend, laut: "Hah! Dies aber ist Wagen 46. SIE sitzen falsch!
Das IST MEIN Platz!" - Ich erröte. "Wirklich? Dann entgschuldigen Sie bitte."
Schon wieder schweißgebadet (trotz der hier viel zu eiskalt eingestellten Klimaanlage)
hebe ich meinen Koffer von der Ablage, der mir prompt auf den heilen, bislang noch nicht
schmerzenden Fuß kracht. Als ich mich anschicke, mich durch das Gepäckdurcheinander
der unfreundlichen resoluten Mutter zu winden, mischen sich andere Passagiere ein:
"DIES IST Wagen 57!" "Bleiben Sie!" "Die Frau mit den Kindern ist im falschen Wagen!"
Ohhhmaaannnnn!!
Nur noch 8 Stunden Fahrt, dann bin ich an meinem Reiseziel ...
Doch - eigentlich - würde ich am liebsten gleich wieder nach Hause fahren.