Alstertalromanze 256

Beschreibung

Ruhige Romanzen von heute - hipsta

Besuch mich täglich


Wenn Augen aus dem Boden wachsen, ist Beate immer ganz Ohr. Sie glaubt auf diese Weise Freunde zu finden. Sie sitzt auch gerne auf dem Bahnsteig, wenn die Strecke gesperrt ist und stellt sich reges Treiben vor. Wenn Menschen an ihr vorbei gehen, bleibt der Windhauch eine ganze Weile im Gesicht. Sie geht oft auf den Ohlsdorfer Friedhof und raucht eine mit Götz. Dabei trägt sie die roten Turnschuhe von damals, mit denen jeder Schritt federnd war. Mittlerweile aber sind die Sohlen abgelaufen und Götz ist unter der Erde auch kein so aufregender Trainingspartner mehr.

Ulla ist ihre einzige Freundin. Die verlässt aber nie das Haus, weil sie eine Phobie vor nicht überdachten Räumen hat. Ab und zu kommt ein junger Mann aus der Nachbarschaft vorbei und kocht für sie eine Woche im Voraus. Nudeln, Kartoffeln, Fleisch und Fisch. Ulla und Beate skypen. Das hat ihnen der junge Mann eingerichtet. Er heißt Samuel, hat eine Hakennase und spielt Tennis. Beate und Ulla reden da manchmal drüber.

Beate führt eine Strichliste über die aus dem Boden gewachsenen Augen. Ulla lacht sie aus und meint, es wären Wiesenpilze oder Taubeneier. Dann schreit Beate laut und böse am Computerbildschirm und zieht sich einen Kopfkissenbezug über den Kopf und sagt, dass Ulla gar nichts verstehen würde und außerdem wäre ein Gesicht hinter ihr auf der Schleiflackschrankwand und das sähe so aus wie Ayatollah Khomeini.

Ab und zu winken sich Ulla und Beate durch das Fenster zu. Ihre Wohnungen sind nur fünfzig Meter voneinander weg, aber sie sind sich noch nie begegnet, eben weil Ulla nie rausgeht. Ulla hat einen kleinen Hund aus Korea bestellt. Den kann man aufklappen und dann mit einer Tastatur programmieren. Er verrichtet Hausarbeiten und bringt Beate manchmal Sachen rüber, wie Rätselheftchen z.B. Außerdem kann er sehr echt in die Blumenkästen im Treppenhaus kacken. Beate führt Ullas Hund immer Gassi, da ja Ulla jemanden braucht, der das für sie und den kleinen Kerl macht. Er heißt übrigens Funktionshund. So stand es auf der Originalverpackung. Es gibt die Möglichkeit eine Hündin dazu zu kaufen. Man kann die Hunde paaren und in ca. 63 Tagen kommt dann ein Baby ohne Aufpreis zur Welt. Beate findet dass eine gute Idee. Ulla überlegt noch, denn solche Entscheidungen möchte sie nicht übers Knie berechen.

Abends geht Beate ins Bett und weint. Sie blickt aus dem Fenster und sieht den Mond, wie er sie anschweigt.
„Besuch mich täglich, Alstertal!“, schluchzt sie.


3. April 2011

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