Alstertalromanze 67

Beschreibung

9. Februar 2008

Nikon F 801s Rossmann 400 Negativscan

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und eine neue Geschichte über das

Mensch werden

Jeden Morgen kommen die Wärter früher. Ich habe zwar keine Uhr, aber ein untrügliches Zeitgefühl. Mir kann man nichts vormachen. Ich bin krank, also bin ich. Krankheit schafft Identität. Ein Geist, der sich als solcher schimpfen darf, kann nur in einem kranken Menschen stecken. Die Wärter führen mich, waschen mich und pflegen meine Haut. Dann machen sie mich zu einem Menschen. Ich werde dann also. Das ist wie eine Kurpackung. Wie ganze Lehmhütten im Gesicht samt Hirsebrei herstellender Häuptlingsmütter. Der Medizinchecker schaut mir tief in den After, ob ich nichts bei mir trage, was meiner Mensch Werdung im Wege sein könnte. Meine offenen Wunden werden mit frischem Schweinefleisch aufgefühlt.

Es läuft Musik. Alte Musik. Klare aber hölzerne Tonfolgen aus der Geschichte der Menschheit. Sie schmiegt sich an die kahlen Wände und Kacheln des Duschraumes. Und trotz der kalten Umgebung klingt sie flauschig wie ein Flokati.

Ich bekomme dreißig Hiebe mit dem Riemen auf die vernarbten Schulterblätter. Das macht richtig wach. Das ist eine ganz andere Wachheitsdimension, zumindest solange, bis die Ohnmacht eintritt. Aber so schnell werde ich nicht mehr ohnmächtig. Und wenn zwischen den Schulterblättern vorher so ein unerträglicher Juckreiz war, dann ist der danach endgültig weg. Juckreiz ist eine der ganz schlimmen Geißeln des Alltags. Eine stetige Ablenkung vom Wesentlichen. Man kann mit Juckreiz nicht einmal in Ruhe in einem Buch blättern.

Im Verlaufe des Tages ebnet sich der Schmerz auch in die alltägliche Melancholie ein. Er wird dann eins mit einem. Und auch wenn man es ums Verrecken nicht will, man gewöhnt sich daran.

Am frühen Nachmittag werden dann die Körperfunktionen elektrisch überprüft. Die Stromschläge sind zunächst nicht sanft, wenn man sich nicht darauf einlässt. Aber mit der Zeit gehören sie zu einem und fühlen sich an wie die Gehirnarbeit unter sich methodisch durchsetzender Migräne. Die Dioden blinken an Brustwarzen und Hervorstehendem. Dann werden Blut-, Urin- und Spermaproben entnommen. Mittlerweile verstehe ich mich sehr gut mit dem Abmelker. Ein echter Kumpeltyp. So ein Original vom Lande, der seine Schwester vom Dorfpsychologen abholt, nur um den dann laut anzubrüllen, dass die ganze Psychologie dummes Zeug ist und das der Kerl wieder dahin verschwinden soll, wo er herkommt.

Abends geht’s früh in die Zelle zurück. Man kann noch ein wenig lesen, oder kreativ sein. Ab und zu besucht mich der geschäftsführende Arzt, damit ich ein paar Unterschriften leiste. Es geht um Abrechnungen und so. Dann gibt es Wassersuppe mit Brot. Da ich derzeit auf Diät bin, ohne Wasser. Dann geht das Licht aus. Ich träume von Wiesen und Feldern, von Blumen und von Mädchen. Ich träume etwas eilig, denn am nächsten Morgen wird es wieder etwas früher werden.





17. Februar 2008