Wächter der Tugend

Ich gehe die prächtige Straße vom Odeonsplatz entlang an der Münchner Residenz in Richtung Marienplatz und beobachte Merkwürdiges: Menschen, egal welchen Alters oder welcher Herkunft, berühren einen kleinen goldglänzenden Fratzenkopf unter den prächtigen vier Löwenfiguren an der Residenz.

Die Löwen sitzen auf ihren Hinterpfoten, immer zwei blicken einander an. In ihren Pfoten halten sie jeweils ein Schild, das rätselhafte Symbole ziert, darunter die Köpfe, so genannte Masquerons. Manche streifen die von den vielen Berührungen schon ganz blank polierten Schnauzen im Vorbeigehen, andere platzieren sich mit Selfie-Stick in der einen Hand davor, mit der anderen reiben sie die Nasen. Es heißt, es bringe Glück, sie zu berühren, doch was genau hat es damit auf sich und wofür stehen die Symbole auf den Schildern in den Pfoten der so beliebten Löwen?

Nicht einfach „nur“ Glück soll es bringen, die Masquerons zu berühren. Die Löwen an der Residenz stehen für die vier Kardinalstugenden, also die Eigenschaften, die ein würdiger Herrscher mit sich bringen sollte. Berührt man die Löwen, sollen diese Eigenschaften auf einen übergehen. Verkörperungen dieser Tugenden finden wir über den Köpfen der Löwen, hoch oben links und rechts des Portals, in Gestalt liegender Frauen, darunter das entsprechende lateinische Wort. Und was ist es, das einem mächtigen Regenten nicht fehlen darf?

PRUDENTIA (Schiff). Er muss klug sein, muss sein Volk geschickt und bedacht durch schwierige Zeiten lenken können. Daher ist auf dem Schild des ersten Löwen symbolisch ein Schiff abgebildet.

IUSTITIA (Sonne). Gerecht soll ein Herrscher sein. Die strahlende Sonne auf dem zweiten Löwen vor der Residenz soll Gerechtigkeit symbolisieren, denn die Sonne erhellt, beleuchtet alles, keine Unwahrheit und Ungerechtigkeit kann sich vor ihr verbergen.

FORTITUDO (spitzer Fels). Er soll zudem stark sein, soll sein Land verteidigen können, unerschütterlich sein. Für Stärke steht symbolisch der spitze Fels, der sich, von Wellen umtost, auf dem Schild des dritten Löwen erhebt.

TEMPERANTIA (Uhr). Die Uhr auf dem Schild des vierten Löwen soll Mäßigkeit darstellen. Der Herrscher muss maßvoll sein, und er soll wissen, zu welcher Zeit welche Entscheidungen getroffen werden sollten. Daher die symbolische Uhr.

Klugheit, Stärke, Gerechtigkeit und Mäßigkeit

Auf dem Schild des letzten Löwen erkenne ich eine Uhr. Ich muss einen Augenblick warten, bis ich mir die Abbildung genauer ansehen kann, denn gerade steigen kichernde Amerikaner von ihren geliehenen Fahrrädern und stürmen zu den Löwen. Ob sie wissen, wofür die Bilder auf den Schildern der Löwen stehen?

Klugheit, Stärke, Gerechtigkeit und Mäßigkeit? Wer kann diese Eigenschaften nicht gebrauchen, auch im Alltag? Ich gehe zurück zum ersten Löwen und berühre alle vier goldglänzenden Schnauzen. Denn: Nur wenn man alle vier berührt, funktioniert es!